Jordanien – Ein Land der Hilfsbereitschaft

Ich bin Leonie. Von meinen 24 Jahren lebte ich die letzten vier in Berlin. Jetzt bin ich in Barcelona – scheinbar haben Städte mit B es mir angetan… Mein ADHS ist befriedigt, wenn ich neue Orte, Menschen, Kulturen und Traditionen kennenlerne. Neben diesen Inhalten schreibe ich über soziale Themen sowie Ungerechtigkeit und über Erlebnisse, die meine Berlin Bubble zum Platzen bringen.

Think outside the Berlin Bubble

Wie sieht die ideale Gesellschaft für dich aus? Durch freiwilliges Engagement tragen wir einen Teil dazu bei. Unser Ehrenamt ist dabei immer auch politisch. Dahinter stehen Werte und Haltungen, über die ich in dieser Kolumne spreche.
In Berlin werden diese Werte von Vielen diskutiert; bei ihnen besteht ein Bewusstsein und es herrscht überwiegend Akzeptanz. Aber: Berlin ist speziell. Berlin ist wie eine Blase, in der sich Menschen mit ähnlichen Haltungen tummeln. Doch wie sieht es außerhalb dieser Blase aus? Think outside the Berlin Bubble!

Hilflos in der Wüste

Müde… ich bin unendlich müde. Es ist sieben Uhr morgens, irgendwo in der Wüste Wadi Rum. Erschöpfung von dem stundenlangen Tanzen auf dem Festival steckt in jedem Knochen meines Körpers. Kälte frisst sich durch die Maschen meines Pullovers. Wer hätte gedacht, dass man sich in Jordanien Mitte Mai tatsächlich über eine Winterjacke freuen würde? Doch nicht nur klamotten-, sondern auch verkehrsmitteltechnisch hätten wir uns besser vorbereiten können. Nachdem wir nun innerhalb von drei Tagen das fünfte Mal im Sand stecken geblieben waren, protestierte der rechte, vordere Reifen endgültig: Er hatte die letzte Befreiungsaktion durch Jeep und Seil mehr schlecht als recht überstanden. Jetzt stehen wir jedenfalls mit unserem Platten am Rande einer Schnellstraße. Doch Rettung naht: Nach wenigen Minuten ist der Rest unserer Freundesgruppe mit dem anderen Auto da. Weitere Autos halten an und bieten Hilfe an. Zutiefst beeindruckt stehe ich unnütz und überflüssig daneben, als die jordanischen Herren der Schöpfung den Reifen wechseln. Währenddessen dürfen wir uns im Auto eines anderen Festivalbesuchers aufwärmen und ein wenig schlafen.

Ich bin zutiefst beeindruckt von der Gastfreund- und Hilfsbereitschaft der Jordanier:innen: Sie helfen anderen unaufgefordert, wo sie einen Unterstützungsbedarf sehen, ohne jegliche (finanzielle) Gegenleistung zu erwarten – Ist das nicht im Prinzip freiwilliges Engagement?

Leonie Eisele
Menschen stehen gebückt vor einem Auto in der Wüste und arbeiten am Reifen
Reifenwechsel um sieben Uhr morgens, irgendwo in der Wüste Wadi Rum.

Später wird mir erklärt, dass vor allem alle männlichen* Jordanier Reifen wechseln können: zum einen, weil es sich bei platten Reifen wegen der bescheiden ausgebauten Straßen um tägliches Brot handele und zum anderen, weil sie dadurch in Not geratenen Frauen ritterlich helfen und dabei vielleicht – ganz nebenbei – deren Telefonnummern abstauben könnten. Es ist also wahrscheinlich, dass das hilfsbereite Anhalten der vielen Autos auch an unserem Geschlecht und darüber hinaus an meinem ausländischen Aussehen gelegen hat.

Welcome to Jordan – Hilfe allerorts

Nichtsdestotrotz ist mir diese außergewöhnliche Hilfsbereitschaft insgesamt schon in den letzten Tagen aufgefallen: Menschen, die mit Händen und Füßen den Weg zu erklären versuchten, aber meinen Freund und mich im Endeffekt dann doch einfach ein Stück begleiteten; Ein Lebensmittelhändler, der die Nachfrage nach dem nächsten Supermarkt falsch verstand und uns deshalb kurzerhand frische Milch- und Käseprodukte sowie sein eigenes Brot für die Wanderung schenkte; Einheimische, die mir stundenlang die unglaublichsten Korallenriffe beim Schnorcheln im Roten Meer zeigten. Ein Hotelmitarbeiter, der uns auf seinem Weg zur Arbeit sah, erkannte, schnurstracks wendete und es sich nicht nehmen ließ, uns fast bis nach Petra zu fahren. Mein absolutes Hilfsbereitschafts-Highlight aber war eine Hitchhiking-Erfahrung: Ein junger Student, der uns nicht nur den kompletten Weg zum Berg Nebo fuhr und uns an der Tankstelle zu Kaffee und Eis einlud, sondern darüber hinaus warten wollte, bis wir mit der Besichtigung fertig sind, um uns dann wieder in die Stadt zurückzufahren und dort gemeinsam den Abend zu verbringen.

Internalisierte Hilfsbereitschaft

Ich bin zutiefst beeindruckt von der Gastfreund- und Hilfsbereitschaft der Jordanier:innen: Sie helfen anderen unaufgefordert, wo sie einen Unterstützungsbedarf sehen, ohne jegliche (finanzielle) Gegenleistung zu erwarten – Ist das nicht im Prinzip freiwilliges Engagement? Diese Frage gilt es wohl subjektiv oder unter Rückgriff auf die offizielle Definition für Freiwilliges Engagement in Deutschland – wonach es freiwillig geleistet werden, nicht auf Gewinn ausgerichtet sein, dem Gemeinwohl dienen, im öffentlichen Raum stattfinden und häufig gemeinschaftlich ausgeübt werden soll [1] – zu beantworten.

Eine flesige Wüstenlandschaft mit Weite und viel blauem Himmel
In Jordanien ist das mit den Verkehrsmitteln so (k)eine Sache, denn außer Bussen sind sie nicht existent. Busfahrpläne ebenso wenig. Die Busse fahren los, wenn sie voll sind. Oder man stellt sich an eine viel befahrene Hauptstraße, hält den Bus per Handzeichen an und fragt, wohin er fährt. Dieses Mal erreichten wir unser Ziel, den Berg Nebo, aber per Anhalter – mein absolutes Hilfsbereitschafts-Highlight!

Ökonomische Situation versus unentgeltliche Unterstützung?

Mein Text zum Thema „Arbeit“ warf die Frage auf, ob freiwilliges Engagement eventuell nur finanziell abgesicherten Menschen möglich ist. Haben der Festivalbesucher, der Lebensmittelhändler, der Hotelangestellte sowie der Student das gemeinsam? Haben sie freie Kapazitäten für unentgeltliche Unterstützung aufgrund ihrer guten ökonomischen Situation?

Laut CEOWORLD magazine betrug das durchschnittliche monatliche Nettogehalt in Jordanien 2022 599.53 US$ [2], das sind umgerechnet 544,16€; im Vergleich dazu betrug es in Deutschland 2835.59 US$, also umgerechnet 2.572,46€. Überraschenderweise habe ich Jordanien aber teilweise als ganz und gar nicht günstig empfunden. Gespräche mit Einheimischen bestätigten meine Wahrnehmung. Es stellte sich heraus, dass das Leben in Jordanien teuer sei: Die vielen Importprodukte des täglichen Lebens hätten einen besonders hohen Preis, die Inflation mache den Menschen schwer zu schaffen… So komme es, dass Viele mehrere Jobs – üblicherweise mit unbezahlten Überstunden – hätten.

Warum ist Jordanien ein Land voller Hilfsbereitschaft?

Warum also sind die Jordanier:innen dennoch so spendabel mit ihrer Unterstützung, ihrer Zeit und ihrem Geld?

Es ist zehn Uhr morgens, irgendwo in der Wüste Wadi Rum, als meine jordanische Freundin und ich zu dem Schluss kommen, dass die Antwort darauf in der Kultur und Tradition arabischer und muslimischer Länder begründet liegt.

Großzügigkeit, Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft werden als soziale Norm, kulturelle Identität und traditioneller Wert betrachtet. Die Menschen sind stolz auf ihre Kultur und Tradition, die es zu bewahren und präsentieren gilt. Es stellt eine Ehre dar, Gäste bzw. Tourist:innen da zu haben – eine Erklärung dafür, warum uns schon die kleinsten Kinder „Welcome to Jordan!“ über die Straße zuriefen. Darüber hinaus ist in vielen arabischen Kulturen ein starkes Gemeinschaftsgefühl vorhanden. Die Menschen fühlen sich verantwortlich, füreinander zu sorgen und sich gegenseitig zu unterstützen – vor allem dort, wo der Staat keine Unterstützung gewährleistet. Gäste werden als eine Erweiterung der Gemeinschaft betrachtet und entsprechend behandelt. Vor allem bei den Beduinen wird dieser Aspekt deutlich: So war Gastfreundschaft bei ihnen seit jeher das höchste Gut, denn das Überleben in der Wüste ist nur durch gegenseitige Unterstützung möglich. Somit spielen hier auch die geografischen Umstände und die historische Bedeutung eine Rolle. Schließlich legt auch der Islam – ebenso wie andere Religionen – großen Wert auf Gastfreundschaft: Gläubige werden ermutigt, Gäste respektvoll zu behandeln und für sie zu sorgen, unabhängig von ihrer Herkunft oder Religion. Auch in nicht streng religiösen Familien wird dieser Wert seit Generationen weitergegeben.

Es ist elf Uhr morgens, irgendwo in der Wüste Wadi Rum, als ich mir drei Fragen stelle: Vielleicht hat man prinzipiell immer freie Kapazitäten, um andere Menschen zu unterstützen? Vielleicht ist es einfach eine Frage der Priorität bzw. eine Einstellungssache? Vielleicht können wir uns in Deutschland eine Scheibe von der jordanischen Mentalität abschneiden?


Nachweise

[1] vgl. 3.2 Was ist bürgerschaftliches Engagement? In: Medienlabor der Universität Augsburg. URL: https://onlinekurslabor.phil.uni-augsburg.de/course/text/7789/8062 (14.08.2023).
[2] vgl. Alexandra Dimitropoulou: These are the Countries with the Highest Average Salaries, 2022. In: CEOWORLD magazine. URL: https://ceoworld.biz/2022/08/15/these-are-the-countries-with-the-highest-average-salaries-2022/ (10.08.2023).

Dieses Interview entstand in der Redaktion Zeigen, was geht!
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