Ich bin Leonie. Von meinen 24 Jahren lebte ich die letzten vier in Berlin. Jetzt bin ich in Barcelona – scheinbar haben Städte mit B es mir angetan… Mein ADHS ist befriedigt, wenn ich neue Orte, Menschen, Kulturen und Traditionen kennenlerne. Neben diesen Inhalten schreibe ich über soziale Themen sowie Ungerechtigkeit und über Erlebnisse, die meine Berlin Bubble zum Platzen bringen.

Think outside the Berlin Bubble

Wie sieht die ideale Gesellschaft für dich aus? Durch freiwilliges Engagement tragen wir einen Teil dazu bei. Unser Ehrenamt ist dabei immer auch politisch. Dahinter stehen Werte und Haltungen, über die ich in dieser Kolumne spreche.
In Berlin werden diese Werte von Vielen diskutiert; bei ihnen besteht ein Bewusstsein und es herrscht überwiegend Akzeptanz. Aber: Berlin ist speziell. Berlin ist wie eine Blase, in der sich Menschen mit ähnlichen Haltungen tummeln. Doch wie sieht es außerhalb dieser Blase aus? Think outside the Berlin Bubble!

Ist freiwilliges – also unentgeltliches – Engagement aber vielleicht ein Privileg, das sich nur bereits berufstätige Menschen leisten können?

Leonie Eisele

Recht auf Arbeit

Mit unserem ehrenamtlichen Engagement tragen wir unter anderem zur Umsetzung der Menschenrechte für alle bei. Das Recht auf Arbeit und gleichen Lohn, Koalitionsfreiheit ist laut Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte AEMR von 1948 eines davon.

Ist freiwilliges – also unentgeltliches – Engagement aber vielleicht ein Privileg, das sich nur bereits berufstätige Menschen leisten können? Fest steht, dass sich freiwilliges Engagement und Arbeit gegenseitig bedingen: Ein Ehrenamt kann einen Einstieg in einen Arbeitsbereich und/oder ein Unternehmen darstellen und durch ehrenamtliche Unterstützung kann das Menschenrecht auf Arbeit für andere verwirklicht werden.

Das Privileg einer Arbeit

Es ist Freitagnachmittag, 15 Uhr. Wir sitzen in einem sonnendurchfluteten Café. Alle haben einen Kaffee vor sich stehen; das Lebenselixier für endlose Stunden vor dem Laptop. „Bald geschafft“, fiebert die Coworking-Gruppe dem Wochenende entgegen.

Vorfreude vermischt sich mit Melancholie. Eine Person fehlt in der Gruppe. Meine mir in kurzer Zeit ans Herz gewachsene Bezugsperson hier im neuen Land ist kürzlich nach Jordanien zurückgegangen. Sie musste. Täglich saß sie neben mir und schrieb Bewerbungen. 200, 300, 400 Mal hat sie sich nach ihrem Masterstudium in Barcelona für einen Job beworben. In Barcelona, in Spanien, in Europa. Keine Chance.

Jobsuche in Spanien

Selbst für Spanier:innen ist es schwer, in Spanien Arbeit zu finden. Spanien ist das Land mit der EU-weit höchsten Arbeitslosenquote, die im Januar 2023 laut des Statistischen Bundesamts 13,0 % (1) betrug. Millionen von Arbeitslosen… Da sind viele gut ausgebildete Leute dabei, die von einem befristeten „Praktikum“ ins nächste rutschen. Ich kenne genug Menschen, die 400€, 500€ für 40 Stunden die Woche bekommen; die vielen Überstunden werden natürlich nicht vergütet. Über ein Viertel der Arbeitsverträge in Spanien sind laut der FAZ befristet – Rang 1 im EU-Vergleich. (2) Diese befristeten Verträge, die sogenannten „contratos temporales“, resultieren aus den Regelungen, die es den Unternehmen schwer machen und teuer zu stehen kommen lassen, Kündigungen umzusetzen. Abfindungen an befristet angestellte Arbeitnehmer:innen fallen deutlich geringer aus. Die Konsequenz: Zum eigenen Schutz bieten Firmen Langzeitverträge oft gar nicht erst. So hangeln sich vor allem junge Spanier:innen von einem Job zum nächsten. Egal, wie gut sie ihre Arbeit erledigen, egal, wie viele Überstunden sie machen: Ist ein Jahr um, müssen sie sich etwas Neues suchen. Jemand Neues wird sich ebenso um eine Übernahme nach einem Jahr bemühen.

ein Pappschilf mit Füßen auf dem steht: need a job
So kann die Jobsuche auch aussehen

Jobsuche in Spanien für Menschen aus Drittstaaten

Für Menschen aus Drittstaaten – also Ländern außerhalb der EU oder des EWR – gestaltet sich das Ganze noch um einiges komplizierter. Sie müssen sich nicht nur in dem ohnehin stark umkämpften Arbeitsmarkt durchsetzen, sondern sich oft aufgrund fehlender Muttersprachkenntnisse und des bis dato fehlenden Arbeitsvisums gleich doppelt beweisen. Stellen Unternehmen Arbeitnehmer:innen aus Nicht-EU-Staaten ein, müssen sie in der Regel deren Arbeitsvisum sponsern – das erfordert eine Menge Papierkram und Geld. Natürlich ist es aus Sicht der Firmen sinnvoll, dies zu vermeiden. Und selbstverständlich ist es vom Standpunkt der EU-Länder aus betrachtet richtig und wichtig, zunächst einmal Arbeitsplätze für die eigene Bevölkerung sowie anschließend für EU-Bürger:innen bereitzustellen. Aus der Perspektive der Fachkräfte aus Drittstaaten ist diese Bevorzugung jedoch ungerecht: Warum wird es ihnen so schwer gemacht, dem Land ihre Arbeitskraft beizusteuern?

So viele junge Menschen aus Ländern außerhalb der EU würden alles dafür geben, um in Spanien bleiben zu können – um ein durchschnittliches Monatseinkommen von ca. 1.600€ netto zu verdienen. (3) Sofort muss ich an die Schwägerin meines Freundes denken: Sie arbeitet als Assistenzärztin in einem öffentlichen Krankenhaus in Madrid; 13€ die Stunde verdient sie dort.

Was ist aus dem Recht auf Arbeit geworden?!

Das Recht auf Arbeit ist ein elementares Menschenrecht! Artikel 23[1] der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 besagt: „Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit.“ Die Umsetzung lässt zu wünschen übrig… (4)

In Deutschland gibt es Arbeit, sagt man. Und Geld, sagt man. Für viele Menschen aus EU- und Nicht-EU-Staaten ist es vermeintlich das Paradies.

Leonie Eisele

Das Land der Arbeit: Deutschland

In Deutschland gibt es Arbeit, sagt man. Und Geld, sagt man. Für viele Menschen aus EU- und Nicht-EU-Staaten ist es vermeintlich das Paradies. Wie viele verschiedene Jobs hatte ich schon? Die Palette reicht von Hotel-Animation über Krankenhaus-Sozialdienst bis hin zu Copy-Writing. Per Leasing-Agentur habe ich mal einen Tag im Lager eines großen Modekonzerns, den anderen Tag in einer Großküche gearbeitet. Okay, vielleicht zählt das nicht als richtige Arbeit. Vielleicht verdeutlicht das Beispiel aber auch gerade perfekt, wie leicht Geld verdienen in Deutschland funktionieren kann. Buchstäblich per Mausklick. In der App sucht man sich einen Job, bei dem einem die Art der Beschäftigung, die Schichtzeiten und der Stundenlohn zusagen, aus. In zwei Stunden kann es losgehen.

In Deutschland gibt es Arbeit, sagt man. Vermutlich nicht direkt den Traumjob, aber immerhin, eine Arbeit. Die Rede ist hier explizit nicht von Menschen, die aufgrund persönlicher oder äußerer Umstände nicht in der Lage zum Arbeiten sind. Die Aussage eines wohnungslosen Menschen neulich in der Ringbahn zum „Hamsterrad“ der Arbeitslosigkeit hat sich tief ein mein Gehirn eingebrannt: „Keine Wohnung, keine Arbeit; keine Arbeit, keine Wohnung“. In Deutschland gibt es Arbeit, sagt man. Es gibt aber auch Missstände im System, Arbeits- und Wohnungslosigkeit.

Alles in allem aber sind die Deutschen beziehungsweise die Menschen mit deutschem Pass privilegiert: Wir haben das Glück, dass prinzipiell genügend Arbeit in Deutschland vorhanden ist; den Vorteil, Teil der EU zu sein; die Freiheit, in jedes andere EU-Land ziehen und dort ohne Arbeitsvisum arbeiten zu können. (5)

Das Privileg des Feierabends

Die Letzten aus der Coworking-Gruppe haben ihren Kaffee zu Ende getrunken. Mittlerweile ist es 17 Uhr. Angenehme deutsche Arbeitszeiten. Wir machen Feierabend und starten in unser wohlverdientes Wochenende.


Nachweise

(1) vgl. EU-weite Erwerbslosigkeit liegt im Januar 2023 bei 6,1 %. Deutschland mit niedrigster Jugenderwerbslosenquote der EU. In: Statistisches Bundesamt (Destatis). URL: https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Bevoelkerung-Arbeit-Soziales/Arbeitsmarkt/EUArbeitsmarktMonat.html (25.03.2023).
(2) vgl. Befristung wird zur Ausnahme: Wie Spanien die Rechte von Arbeitnehmern stärken will. In: FAZ. URL: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/spanien-will-arbeitsmarkt-reformieren-befristung-wird-ausnahme-17705115.html (01.04.2023).

(3) vgl. Salario medio en España 2023 (sueldo anual, mensual, por hora…). In: enterat. URL: https://www.enterat.com/actualidad/salario-medio-espana.php (01.04.2023).
(4) vgl. Artikel 23: Recht auf Arbeit, gleichen Lohn. In: Amnesty International. URL: https://www.amnesty.de/artikel-23-recht-auf-arbeit-gleichen-lohn (26.03.2023).

(5) vgl. Beschäftigung, Soziales und Integration. In: Europäische Kommission. URL: https://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=470&langId=de (02.04.2023).

Dieses Interview entstand in der Redaktion Zeigen, was geht!
Sie ist die Freiwilligen-Redaktion der oskar | freiwilligenagentur lichtenberg. Freiwillig Engagierte verfassen für die Redaktion Beiträge über Themen im Zusammenhang mit Engagement. Das Format der Beiträge kann in der Redaktion frei gewählt werden, neben Texten sind auch Videos oder anderes möglich. Die jährlich stattfindenden Freiwilligentage stehen besonders im Fokus. Die Zeigen, was geht! – Redaktion steht allen Interessierten offen. Wir treffen uns an jedem 2. Donnerstag im Monat. Wer mitmachen möchte, meldet sich bitte bei oskar: info@oskar.berlin