Wider das Vergessen: 181 Stolpersteine in Lichtenberg und Hohenschönhausen

Fotos: Wolfgang Haensel

Lichtenberg ist um 18 Erinnerungsstätten reicher. So viele Stolpersteine wurden im ersten Halbjahr dieses Jahres in den Kiezen von Lichtenberg und Hohenschönhausen verlegt. Insgesamt gibt es in Lichtenberg nun 181 davon. Sie erinnern an die Schicksale jüdischer Mitbürger:innen, die während der Nazidiktatur deportiert, ermordet oder in den Freitod getrieben wurden. Dort wo sie ihre letzte Wohnung hatten, sind die Steine im Gehweg vor den Häusern eingelassen.

Stolpersteinverlegung im Rahmen der Lichtenberger Frauenwoche

Über Geschichte stolpern können Passanten jetzt auch in der Frankfurter Allee 135. Das ist im Kreuzungsbereich zur Möllendorffstraße, dort wo die HOWOGE seit dem vorigen Jahr in den neu errichteten Bürogebäuden am Stefan-Heym-Platz 1 ihre Unternehmenszentrale hat. Die Wohnungsgesellschaft unterstützt die Erinnerungs- und Gedenkarbeit in Lichtenberg kontinuierlich, so auch die Stolpersteinverlegung im Bereich vor ihrem Firmensitz. Die Stolpersteine, die im Rahmen der Lichtenberger Frauenwoche am 13.06.2022 verlegt wurden, erinnern an die Schwestern Anni und Charlotte Bock. Nach dem Tod ihrer Mutter und ihres Vaters lebten die 1891 beziehungsweise 1895 geborenen Geschwister seit 1937 in der elterlichen Wohnung in der Frankfurter Allee 135. Charlotte war Arbeiterin und Anni als Strickerin tätig. Beide waren ledig. Am 30. August 1942 sahen sie keinen Ausweg mehr aus den immer stärker werdenden Repressalien der Nazis gegen jüdische Mitbürger:innen und wählten die Flucht in den Freitod mit Schlafmitteln. Sie wurden noch ins Jüdische Krankenhaus eingeliefert. Doch jede Hilfe kam zu spät. Anni verstarb dort um 16:00 Uhr und ihre Schwester Charlotte 20:45 Uhr. Weitere Stolpersteine wurden allein im Juni 2022 verlegt in der Lückstraße 12 für Erna Lohs, in der Siegriedstraße 3 für Emmi Drescher, in der Möllendorffstraße 43 für Adolf und Anna Adler und in der Möllendorffstraße 11 für Luise Sternberg.

Zu den Teilnehmern der Verlegungszeremonie gehört auch die Bundestagsabgeordnete Dr. Gesine Lötzsch (Die Linke)
Lebendige Erinnerungskultur dank freiwilligem Engagement

Ich habe schon oft über die Verlegung der Stolpersteine geschrieben. Und mich dabei immer mal wieder gefragt, wie denn heute in Erfahrung gebracht werden kann, wo jüdische Mitbürger:innen gewohnt haben und welches Schicksal sie erlitten haben. So auch diesmal. Schließlich sind ja seither rund acht Jahrzehnte vergangen. Ich muss endlich Dagmar Poetzsch danach fragen. Dagmar ist in Lichtenberg Ansprechpartnerin für Erinnerungskultur. Gemeinsam mit Freiwilligen ist sie in den Lichtenberger Arbeitskreisen Stolpersteine akribisch dabei, genau solche Recherchen durchzuführen. Sie weiß das also ganz genau. Für Lichtenberg, sagt sie mir, „wurde in den 1990er Jahren eine Zusammenstellung der bekannten Opfernamen aufbereitet. Das ist für uns eine gute Grundlage.“ In den Arbeitskreisen falle auch die Entscheidung, wann welche Stolpersteine verlegt werden können. Schließlich hänge das ja vom Ergebnis der Recherche zum Schicksal der jüdischen Mitbürger:innen ab. Quellen gebe es mehr, als sich Uneingeweihte vorstellen können. Auch ich bin überrascht, was Dagmar alles aufzählt: das Gedenkbuch im Bundesarchiv, Yad Vashem, Berliner Adressbücher der einzelnen Jahrgänge, die Original Deportationslisten Statistik des Holocaust, die Vermögensverwertungsakten, die sich im Brandenburgischen Landeshauptarchiv befinden. Und das sind bei weitem nicht alle. Dank Digitalisierung sind die Recherchen inzwischen zumeist online möglich.

Gedenkbuch mit mehr als 176.000 Namen jüdischer Opfer

Angeregt durch Dagmar habe ich mich im Internet informiert und weiß jetzt, dass mit der Arbeit am Gedenkbuch im Bundesarchiv auf Initiative der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem 1960 begonnen wurde. Alle jüdischen Opfer der Shoah aus Deutschland sollten dokumentiert werden, so das Ziel. Die erste Auflage des Gedenkbuches erschien 1986 unter dem Titel „Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945“. Das Buch enthielt insgesamt ungefähr 128.000 Namen jüdischer Opfer. Nach dem Ende des Kalten Krieges begann das Bundesarchiv Mitte der 1990er Jahre mit einer umfassenden Neubearbeitung. Und seit 2007 steht das Gedenkbuch nun auf der Internetseite des Bundesarchivs online und wird rege genutzt, kommentiert und korrigiert. Enthielt die gedruckte Fassung von 2006 noch mehr als 149.000 Namen jüdischer Opfer, so waren es 2020 im Online-Gedenkbuch mehr als 176.000. Dokumentiert werden durch das Bundesarchiv im Gedenkbuch ausschließlich Daten, die eindeutig durch schriftliche Quellen belegt sind, um wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden.

„Das bleibt lange in den Kleidern“

Wenn Dagmar Poetzsch an das Engagement in den Arbeitskreisen Stolpersteine denkt, ist ihr wichtig: „Es ist vielfach eine große Fleißarbeit, die hier von den Freiwilligen geleistet wird. Das kann gar nicht genug gewürdigt werden“. „Nein“, so korrigiert sie sich selbst, „Fleißarbeit ist es natürlich auch, aber es ist mehr. Wenn Du zum Beispiel im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam sitzt und in Originaldokumenten liest, wie Vermögenswerte ermordeter Jüd:innen verwertet wurden, da läuft es Dir schon kalt den Rücken runter. Und das nimmst Du mit, das bleibt lange in den Kleidern.“ Sie verstehe deshalb jeden, der sich für diese wichtige Erinnerungsarbeit engagiert und ihr sagt: „Ich bin dabei die Verlegungszeremonien vorzubereiten und würdevoll durchzuführen. Da kannst Du auf mich zählen, da mache ich alles. Aber bei der Recherchearbeit musst Du auf mich verzichten. Das halte ich mental nicht aus.“

Am Ende einer jeden Verlegungszeremonie sagt Dagmar Poetzsch immer: Nie vergessen!

Nie vergessen – Erinnerung an Anni und Charlotte Bock
Dagmar Poetzsch informiert über das Schicksal der jüdischen Mitbürger:innen

Dieser Text entstand in der Redaktion Zeigen, was geht!
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Die Rubrik #oskarRedetMit vereint Interviews mit aktiven Menschen aus dem Bereich Engagement und Kiezkultur. Sie ist ein fester Bestandteil der Freiwilligenredaktion.

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