Text und Fotos Fiona Finke
Niemals vergessen! Unter diesem Motto stand die Aktion „Erinnern und Gedenken in Alt-Lichtenberg“ am 11. September im Nibelungenkiez. Zu dem Rundgang während der Freiwilligentage Lichtenberg 2020 hatten die Initiative Stolpersteine Lichtenberg, LICHT-BLICKE und der DGB Kreisverband Ost eingeladen. Die etwa 30 Teilnehmenden wurden von Dagmar Poetzsch angeleitet, die sich seit mehr als 10 Jahren in der Initiative engagiert.
Los ging es am Denkmal für die Widerstandskämpferin Liselotte „Lilo“ Herrmann auf dem Freiaplatz. Dagmar las aus der Biografie der 1938 in Plötzensee ermordeten Kommunistin vor. Die Zuhörenden erfuhren, dass sie wegen ihrer politischen Aktivität 1933 ein Studienverbot bekam, dass der Säugling auf dem Arm der Statue ihr Sohn Walter ist und dessen Vater noch vor der Geburt von den Nationalsozialisten umgebracht wurde. Es folgten Informationen zu dem Widerstandskämpfer Hans Zoschke, der in Lichtenberg aktiv war und zu seiner Schwester Brunhilde. Dagmar ist es wichtig, auch an das Schicksal weiblicher Widerständler zu erinnern. Denn oft seien es Frauen gewesen, die im Hintergrund gewirkt und zum Beispiel Flugblätter vervielfältigt und verteilt haben.
Doch um in der NS-Zeit verfolgt und ermordet zu werden, musste man nicht im Widerstand aktiv sein. Viele Menschen, so Dagmar, hätten sich nie vorstellen können, dass sie zum Opfer werden könnten. Denn sie führten ein ganz normales Leben, hatten einen durchschnittlichen Job und waren Teil ihrer Nachbarschaft. Ihnen wurde zum Verhängnis, dass sie jüdisch waren, homosexuell, Sinti oder Roma, Zeugen Jehovas oder eine Behinderung hatten. Für einige der früheren Bewohner*innen der Rüdiger-, Hagen- und Fanningerstraße gibt es inzwischen Stolpersteine. Das sind in den Bürgersteig eingelassene Pflastersteine aus Messing. Sie erinnern an im Nationalsozialismus verfolgte Bewohner*innen nahe gelegener Häuser. Erfunden hat die Stolpersteine der Aktionskünstler Gunter Demnig (*1947 in Berlin), als er Anfang der 1990er Jahre in Köln an die Deportation von Sinti und Roma erinnerte. Das Messing, aus dem die Stolpersteine bestehen, läuft mit der Zeit dunkel an. Außerdem werden die Symbole der Erinnerung durch den alltäglichen Dreck der Großstadt verschmutzt. Damit sie im Vorbeigehen wieder auffallen wurden die Stolpersteine an diesem Abend zum Glänzen gebracht. Die Brüder Janek und Bela waren mit Feuereifer dabei und reinigten das Messing mit Schwamm und Paste. Anschließend drapierten sie sorgsam Blumen. Währenddessen las Dagmar aus den Biografien der Verstorbenen vor. Jede dieser kleinen Zeremonien beendete sie mit den Worten „niemals vergessen“.
In der Hagenstraße kam die Gruppe an einem Laternenpfahl mit einem Fahndungsplakat vorbei. Darauf wurden Hinweise auf die Täter gesucht, die wenige Wochen zuvor einen Brandanschlag auf die jüdisch geführte Kiezkneipe „Morgen wird besser“ verübt hatten. Da der Besitzer schon häufiger aus der rechtsextremen Szene bedroht wurde, vermuten viele Menschen die Täter in der Neonazi-Szene. Nicht wenige der Nachbar*innen wurden sicher durch diese Tat darin bestärkt, mit der Teilnahme am Stolpersteine-Rundgang Flagge zu zeigen. Für Marieluise war das ein Grund zu kommen, erzählt sie. Daneben möchte sie auch Geschichte erlebbar machen und mehr darüber erfahren, wer früher im Kiez gelebt hat. Auch Nelly wurde durch diesen Anschlag zur Teilnahme motiviert. Sie kann sich gut vorstellen, zukünftig aktiv zu bleiben und sich in der Stolpersteine-Initiative zu engagieren.
Der Rundgang fand dann auch seinen symbolträchtigen Abschluss mit einem kleinen Bratschenkonzert gegenüber dem „Morgen wird besser“. Der Musiker Johann-Vincent Slawinski begleitet ehrenamtlich Stolperstein-Einweihungen und Rundgänge wie diesen. Er erzählt, dass er nur wenig und unregelmäßig Zeit für ehrenamtliches Engagement hat, aber sehr gerne etwas tun wolle. Deshalb trägt er das bei, was er am besten kann und musiziert. Zu guter Letzt informierte Dagmar Poetzsch die Interessierten über Engagement-Möglichkeiten im Arbeitskreis Stolpersteine Lichtenberg//Hohenschönhausen. Neben dem Putzen von Stolpersteinen gehören dazu vor allem die Recherche von Biografien und die Organisation rund um die Verlegung neuer Stolpersteine. Felicitas aus den Nibelungenkiez meldete sich und möchte gerne bei der Recherche helfen. „Die Nazis haben versucht, die Menschen und ihre Geschichten auszulöschen“, sagt sie. „In den industriellen Massenmorden wurden die Menschen zur Zahl. Wir haben heute die Möglichkeit, ihnen ihre Geschichte ein Stück weit zurück zu geben.“
Die ehemaligen Bewohner*innen des heutigen Nibelungenkiez, an die auf dem Rundgang erinnert wurde, sind: Chana Bannass (1864-1942), Siegmund Bannass (1869-1943), Hermann Rindsberg (1878-unbekannt), Helene Levy (1873-1943), Frieda Rosenthal (1891-1936). Niemals vergessen.
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