Ich bin Leonie. Von meinen 24 Jahren lebte ich die letzten vier in Berlin. Jetzt wohne ich in Barcelona – scheinbar haben Städte mit B es mir angetan… Mein ADHS ist befriedigt, wenn ich neue Orte, Menschen, Kulturen und Traditionen kennenlerne. Neben diesen Inhalten schreibe ich über soziale Themen sowie Ungerechtigkeit und über Erlebnisse, die meine Berlin Bubble zum Platzen bringen.
Think outside the Berlin Bubble!
Wie sieht die ideale Gesellschaft für dich aus? Durch freiwilliges Engagement tragen wir einen Teil dazu bei. Unser Ehrenamt ist dabei immer auch politisch. Dahinter stehen Werte und Haltungen, über die ich in dieser Kolumne spreche.
In Berlin werden diese Werte von Vielen diskutiert; bei ihnen besteht ein Bewusstsein und es herrscht überwiegend Akzeptanz. Aber: Berlin ist speziell. Berlin ist wie eine Blase, in der sich Menschen mit ähnlichen Haltungen tummeln. Doch wie sieht es außerhalb dieser Blase aus? Think outside the Berlin bubble!
„Frauenprobleme“ vs. „Männerprobleme“
An zwei aufeinander folgenden Abenden wurde mir von zwei Cis-Männern [ Männer, die sich mit dem Geschlecht identifizieren, mit dem sie wahrgenommen werden, Anm. d. Red.] die gleiche Geschichte leicht anklagend nahegebracht: Eine Frau mit einigen als „männlich“ betrachteten Attributen entschied sich dazu, eine Zeit lang als „Mann“ zu leben, der Erfahrung wegen. Nach anderthalb Jahren beging sie Suizid. Für die beiden Cis-Männer war klar, dass die als Mann lebende Frau an der Schwere des „Mannseins“ zerbrach.
Normalerweise habe ich Beschwerden europäischer, weißer, heteronormativer Cis-Männer über ihr „hartes Leben“ verständnislos zurückgewiesen. Aber war das fair? Was ist aus meinem Grundsatz der Gleichberechtigung geworden? Alle tragen ihr eigenes Päckchen. Probleme sind nicht miteinander vergleichbar. Alle verdienen es, gehört und unterstützt zu werden.
Feminismus bedeutet meiner Meinung nach schlicht und einfach Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung für alle Geschlechter.
Leonie Eisele, freiwillige Redakteurin bei oskar
Brauchen wir mehr Men-Empowerment?
Die Diskussion in unserem Wohnzimmer gestern Abend darüber, „Welche Probleme Männer denn schon hätten?“, öffnete mir dahingehend die Augen. In den Antworten erkannte ich gleich mehrere Bedürfnisse meiner männlichen Cis-Freunde. Ich spürte ihren Frust. Die Erwartungen der Gesellschaft an „die Männer“ hätten sich in den letzten Jahrzehnten nicht sonderlich verändert: „Ein Mann muss männlich sein“, „Weinen ist ein Zeichen für Schwäche“. Die Schwierigkeiten der Erfüllung dieser Erwartungen würden nicht gesehen, „Männer“ von der Gesellschaft nicht gehört. Es gäbe Woman-Empowerment, aber kein Men-Empowerment.
Zugegebenermaßen haben „Männer“ eine kleinere Lobby als „Frauen“ mit dem Feminismus [ „Lobby“ im Sinne einer „gesellschaftliche Bewegung“, Anm. d. Red. ]. Hier drängt sich natürlich die Frage auf, ob die Benachteiligung tatsächlich so gravierend ist, dass sie den Ausbau der Lobby notwendig macht – wie dies für den Feminismus der Fall war.
Wie kannst du kein:e Feminist:in sein?!
Bis hierhin ging ich jedenfalls voll mit, hatte das erste Mal tatsächlich ein bisschen Mitleid mit „den armen Männern“. Spaß beiseite, ich war wirklich dankbar dafür, dass sie so offen und ehrlich über ihre Gefühle und Probleme sprachen. Doch dann der Schock: Ein Bekannter verkündete feierlich, er sei KEIN Feminist. „Wie kannst du kein Feminist sein?“, reagierte ich leicht empört. Er machte es sich auf seinem Stuhl gemütlich und antwortete mit der Gegenfrage, wie ich Feminismus definieren würde. „Aha, das ist der Punkt!“, pflichtete er mir zustimmend bei, als ich mit meiner Erklärung fertig war.
Feminismus bedeutet meiner Meinung nach schlicht und einfach Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung für alle Geschlechter.
Feminismus vs. „Männerhass“
Sofort beklagten die Cis-Männer nämlich, wie viele Frauen den Feminismus missbrauchen würden, um unter dessen Deckmantel „Männerhass“ zu verbreiten. Nein, Feminismus hat nichts mit Hass und Hetze zu tun. Er richtet sich nicht GEGEN „Männer“, sondern AN alle Menschen. Bücher mit dem Titel „Ich hasse Männer“ tragen dazu bei, dass grundsätzlich feministisch eingestellte „Männer“ abgeschreckt werden; der Zugang zu einem konstruktiven Feminismus wird so durch Feminist:innen verstellt. Viele Leute betonen, sie seien KEINE Feminist:innen, nur um ein Exempel gegen die „Hardcore-Feminist:innen“ zu statuieren.
Gleiche Vorteile = gleiche Nachteile
Mein nicht-feministischer Bekannter jedenfalls wollte mehr von meinen nicht-männerhassenden, feministischen Überzeugungen wissen. Mein Freund brachte allen ein Cañita, wie sie hier in Barcelona ein kleines Bier nennen, und wir öffneten die Chips-Tüte. Leicht trotzig beantwortete ich seine zugegebenermaßen interessanten Fragen.
Erstens: Bezahle ich genau so viel Miete wie mein Freund? Zweitens: Unterstützen mein Freund und ich uns gegenseitig gleichermaßen in unseren Karrieren? Drittens: Wer von uns bleibt, hypothetisch gesprochen, nach der Geburt eines Babys zu Hause? Amüsiert stellte ich fest, dass mein Freund zufrieden lächelte und zustimmend nickte, als meine Antworten auf all jene Fragen Gleichberechtigung attestierten. Mein Bekannter hatte aufgrund seiner Erfahrungen andere Antworten erwartet. Er ließ sich über sein katastrophales letztes Date aus; und da musste ich ihm beipflichten: Solange sie von ihm erwartet, beim ersten Date ihre 400€-Rechnung am selbst ausgewählten Treffpunkt, der zufälligerweise das teuerste Restaurant der Stadt ist, zu zahlen, kann sie nicht von sich behaupten, Feministin zu sein.
Feminismus bedeutet nicht, sich die Rosinen aus dem Kuchen herauszupicken. Feminismus bedeutet, seine Rechnung für den Kuchen selbst zu zahlen.
Intersektionaler Feminismus is the key!
Da ist er wieder: mein deutscher Feminismus! Hätten Frauen aus anderen Ländern die drei Fragen meines Bekannten anders beantwortet? Frauen aus dem Iran? Frauen aus Afghanistan? Streng katholische oder orthodoxe Frauen? Lassen die kulturellen, gesellschaftlichen, traditionellen, ökonomischen, religiösen oder persönlichen Umstände möglicherweise nicht die gleichen Antworten zu? Meine Freundin aus Jordanien jedenfalls erklärte sich zur „halben Feministin“; es sei gang und gäbe, dass „die Männer“ bei Dates oder auch freundschaftlichen Treffen die Rechnung im Restaurant zahlen – das erwarte sie auch so. Auch mein gar nicht feministischer Bekannter ist durch seine traditionell ägyptische Erziehung sowie seine Jahre beim Militär geprägt.
Wir neigen dazu, über Ungleichheit aufgrund von Rassifizierung zu sprechen, als sei sie getrennt von Ungleichheit aufgrund von Geschlecht, Gesellschaftsschicht, Sexualität oder Einwanderungsgeschichte.
Kimberly Crenshaw, amerikanische Rechtsprofessorin, Bürgerrechtlerin und intersektionale Feministin.
Es rattert in meinem Kopf… drittes oder viertes Semester Soziale Arbeit: Intersektionaler Feminismus is the key! Dabei geht es genau darum: Eine Ungleichheit ist niemals getrennt „von Ungleichheit aufgrund von Geschlecht, Gesellschaftsschicht, Sexualität oder Einwanderungsgeschichte“, um es mit einem Zitat der Anwältin, Bürgerrechtlerin und intersektionalen Feministin Kimberlé Crenshaw zu sagen. Menschen sind demnach mehreren Formen der Unterdrückung, die miteinander in Beziehung stehen und sich gegenseitig bedingen, gleichzeitig ausgesetzt. Daher haben meine jordanische „halbfeministische“ Freundin, mein ägyptischer Bekannter mit Militärausbildung und ich aufgrund unterschiedlicher Hintergründe natürlich auch einen jeweils anderen Zugang zu Feminismus.
Die Sache mit den Begrifflichkeiten
Wir blieben aber zunächst beim Oberbegriff „Feminismus“. Am Ende dieses Abends waren wir uns jedenfalls, trotz unserer unterschiedlichen Hintergründe, Heimatländer und Weltanschauungen, einig, dass wir alle pro Gleichberechtigung, also Femini… Ah, wenn da nicht der Name wäre. Der störe die anwesenden Männer am meisten. Der exkludiere „die Männer“, davon würden sie sich nicht abgeholt fühlen. Kam diese Beschwerde über die fehlende Sichtbarkeit aller Geschlechter in der Sprache wirklich gerade von DEN Cis-Männern, die die Motivation des Genderns nicht nachvollziehen können? Leute, kommt schon, jetzt sind hier einmal „die Frauen“ in der Sprache sichtbarer. „Es geht doch um den Inhalt, die Bedeutung des Wortes.“ Ist das nicht immer das Argument der Gegner:innen des Genderns? Zudem sind sie für die Vereinfachung der Sprache und daher gegen das Gendern, das ganz nebenbei ja auch all diejenigen ausschließe, die das Gendern nicht beherrschen. Stimmt, das Gendern – egal ob mit Sternchen, Doppelpunkt oder Binnen-I – stört den Sprachfluss
Also gut, ich bin mir bewusst, dass ich in einer Blase – einer Feminismus-Blase – lebe. Deshalb bin ich da ganz offen: Hat jemand einen Vorschlag für innovatives Gendern und eine Namensänderung von Feminismus, sodass sich alle Geschlechter inkludiert fühlen?
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