Interview Peter Breitfeld, Fotos Dagmar Poetzsch und Wolfgang Haensel

Dagmar Poetzsch ist oft als Spaziergängerin mit besonderem Anliegen in den Lichtenberger Kiezen unterwegs. Sie organisiert und führt Putzspaziergänge zu den dort verlegten Stolpersteinen. Mit diesen im Boden verlegten kleinen Gedenktafeln wird an das Schicksal von Menschen erinnert, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. Die Meisten von ihnen waren Jüdinnen und Juden. Ihren Ursprung haben die Stolpersteine in einem Projekt des Künstlers Gunter Demnig aus dem Jahr 1992. In Lichtenberg sind bisher 148 Stolpersteine verlegt. Sie sind in den Bürgersteig eingelassen und befinden sich dort, wo die Opfer des Nationalsozialismus ihren letzten Wohnsitz hatten. Die Steine sind aus Beton und mit einer Messingplatte versehen. Alle haben eine Gravur mit den wichtigsten persönlichen Daten.

Wenige Tage vor dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 sprach Oskar mit Dagmar Poetzsch über ihr Engagement und über neue Vorhaben.

Oskar: Sie sind in Lichtenberg Ansprechpartnerin für Erinnerungskultur und kümmern sich um Pflege und Neuverlegung von Stolpersteinen im Bezirk. Was motiviert Sie für diese ehrenamtliche Arbeit? Und wer unterstützt Sie dabei?

Dagmar Poetzsch: Meine Motivation für diese ehrenamtliche Tätigkeit ist, dass die Greueltaten in der Zeit des Hitlerfaschismus nie vergessen werden und der Opfer hier und überall gedacht wird. Das ist mein historischer Bezug. Es gibt aber auch ganz aktuelle Ereignisse, die mich antreiben. Während der Freiwilligentage im vergangenen September zum Beispiel haben wir bei einem Stolperstein-Putzspaziergang im Gebiet um den Lichtenberger Freiaplatz auch an der jüdisch geführten Kiezkneipe „Morgen wird besser“ halt gemacht. Wenige Wochen zuvor wurde dort ein Brandanschlag verübt. Für viele der Teilnehmer am Putzspaziergang war das der Auslöser, dabei zu sein und sich solidarisch zu zeigen. Oder ich denke an den Anschlag auf die Synagoge in Halle. Dort war es eine massive Holztür, die Schlimmeres verhindert hat. Ich wünsche mir, dass noch mehr Menschen gegen Rechtsextremismus und den wieder auflebenden Judenhass bei uns heute aktiv werden.

Stolpersteine sind eine Form des Gedenkens und Erinnerns. Sie bringen die Namen der Opfer an ihren, in der Regel letzten frei gewählten Wohnort, zurück. Dort sind sie aus dem Leben gerissen worden und sie waren unsere Nachbarn! In den Lichtenberger Kiezen unterstützen mich in Arbeitskreisen Menschen, für die das Thema Erinnern und Gedenken bedeutsam ist. Sie engagieren sich als Putzpaten, führen Rundgänge durch, beteiligen sich an Recherche, um neue Biografien zu erarbeiten oder vorhandene zu aktualisieren. Ohne diese Unterstützung könnte ich die Arbeit in dem Umfang sonst gar nicht machen.

Jeder der Stolpersteine ist mit persönlichen Daten graviert – Name, Geburtstag, Todestag und -Ort. Warum ist diese Individualisierung so wichtig? Reichte nicht auch Erinnerung und Gedenken für eine Opfergruppe, zum Beispiel die Jüd*innen?

Die Opfergruppen sind ja sehr weit gefächert. Juden mit dem zahlenmäßig höchsten Anteil, Sinti und Roma, Antifaschisten und Widerstandkämpfer, Homosexuelle. Und es gibt ja auch zahlreiche Gedenkorte, die einzelnen Opfergruppen gewidmet sind. Wichtig für mich ist aber, dass hinter allem Menschen stehen, die mitten aus dem Leben gerissen wurden. Sie wurden gedemütigt, entrechtet, gefoltert und ermordet. Ihre Namen wurden durch Nummern, Kennkarten, Registrierungen „ersetzt“. Und der Talmud sagt: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist!“ Da ganze Familien ausgelöscht wurden, wer soll die Namen denn in Erinnerung bringen? Und das ist jetzt mein Beitrag, dass sich diese menschenverachtende Zeit nie wiederholt und die Opfer niemals vergessen werden.

Mit den Informationen auf den Stolpersteinen erfahren Interessierte natürlich nur das Allernötigste über jene, deren gedacht werden soll. Wer nicht gerade an einem der geführten Spaziergänge teilnimmt, findet nicht so leicht ausführliche Informationen über die Gewürdigten. Dem soll jetzt mit einem neuen Projekt Abhilfe geschaffen werden. Was planen Sie?

Um dafür noch mehr Öffentlichkeit zu erreichen, wollen wir vielfältigeres Material erarbeiten. Eine Broschüre zu Stolpersteinen mit Angaben zu Biografien und ergänzenden Informationen zu Sachverhalten, soll für Interessierte ein weiteres, zusätzliches Angebot sein.

Erinnerungsstein in Karlshorst

Warum beginnen Sie mit dem Projekt gerade im Karlshorster Prinzenviertel? Wird es künftig solche Broschüren auch über Stolpersteine in anderen Lichtenberger Kiezen geben? Und wo wird man die Broschüren bekommen?

Wir haben im Arbeitskreis Stolpersteine Karlshorst überlegt, womit wir beginnen. Da bot sich das Prinzenviertel an, weil hier der Ursprung von Karlshorst liegt und sein Aufbau vor 125 Jahren begann. Leider sind zu diesem historischen Jubiläum die vielen vorbereiteten Aktivitäten coronabedingt abgesagt worden. Aber das wird nachgeholt

Unser Ziel ist es, für alle Kieze ähnliche Publikationen nach und nach zu erstellen, um auch den neu Hinzugezogenen ihren Kiez näher zu bringen. Das kostet Geld und das müssen wir erstmal einwerben. Die Broschüren werden dann in den Stadtteilzentren, auf Veranstaltungen, ggf. in den Bürgerämtern und Bibliotheken zu erhalten sein.

Wenn es künftig mal mehrere solcher Broschüren gibt, werden dann die Stolpersteine nicht überflüssig? Es gibt ja auch einige, die sage: Wir sind gegen das Vergessen und für eine lebendige Erinnerungskultur. Aber das mit den Stolpersteinen gefällt uns nicht so recht. Da läuft man darauf herum. Und unweigerlich sind sie meist verschmutzt und die Informationen kaum zu lesen. Was sagen Sie dazu?

Stolpersteine als Gedenkort werden nie überflüssig. Die Menschen sind aus ihrem Lebensumfeld verdrängt worden. Für die überlebenden Angehörigen ist es ein bedeutsamer Ort, denn sie haben ja keine Grabstelle. Durch unsere Recherchearbeit haben Nachfahren von Opfern erstmals überhaupt Informationen zu ihrer Familie bekommen. Und dafür sind sie sehr dankbar.

Ich weiß aber auch, dass es zum Projekt Stolpersteine kritische Positionen gibt. Der Künstler Gunter Demnig wollte aber gerade deshalb die Opfernamen in den Alltag zurück bringen. Andere Formen einer lebendigen Erinnerungskultur sind ebenso notwendig, denn mir ist zum Beispiel sehr wichtig, dass nicht nur an Gedenktagen das Thema präsent ist, sondern 365 Tage im Jahr. Und Stolpersteine sauber halten kann Jeder oder Jede, damit sie für Vorbeigehenden sichtbar sind.

Wenn Sie ein, zwei Wünsche frei hätten, was läge Ihnen da besonders am Herzen? Und wobei können Sie Hilfe gebrauchen?

Besonders am Herzen liegt mir die Arbeit mit interessierten Schülerinnen und Schülern. Deshalb wünsche ich mir hierfür mehr Unterstützung  durch Schulen, insbesondere von Schulen, die sich den Titel „Schule gegen Rassismus – Schule mit Courage“ erarbeitet haben. Sie könnten Vorbildwirkung haben.

Mein zweiter Wunsch ist, für unsere Arbeit ein verlässliches Grundbudget zu haben, damit eingeworbene Spenden für die Anfertigung von Stolpersteinen verwendet werden können. Gern nutze ich die Möglichkeit, hier unser Spendenkonto bekannt zu machen:

Spendenkonto:                 pad gGmbH

                                            Bank für Sozialwirtschaft

                                            IBAN DE 50 100205 00000 314 6907

                                            Verwendungszweck Stolpersteine

Wir freuen uns über jede Unterstützung, die uns auf diesem Weg erreicht. Denn Gedenkarbeit ist nicht umsonst und so benötigen wir finanzielle Mittel, um die ehrenamtliche Arbeit kontinuierlich fortsetzen zu können.

Weitere Informationen und Kontakt: www.licht-blicke.org, stolpersteine@licht-blicke.org, 030/50566518

#OskarRedetMit ist eine Interviewreihe aus Freiwilligen-Redaktion der oskar |freiwilligenagentur lichtenberg. Freiwillig Engagierte verfassen für die Redaktion Beiträge über Themen im Zusammenhang mit Engagement. Die Redaktion ist grundsätzlich offen für alle Intressierten. Wir treffen und ca. ein Mal im Monat.

Wer mitmachen möchte, meldet sich bitte bei Gül Yavuz: guel.yavuz@oskar.berlin

Dieser Artikel entstand in der Redaktion Zeigen, was geht! Sie ist die Freiwilligen-Redaktion der oskar | freiwilligenagentur lichtenberg. Freiwillig Engagierte verfassen für die Redaktion Beiträge über Themen im Zusammenhang mit Engagement. Das Format der Beiträge kann in der Redaktion frei gewählt werden, neben Texten sind beispielsweise auch Videos möglich. Die jährlich stattfindenden Freiwilligentage stehen besonders im Fokus. Die Zeigen, was geht!- Redaktion ist grundsätzlich offen für alle Interessierten Wir treffen uns an jedem 2. Donnerstag im Monat. Wer mitmachen möchte, meldet sich bitte bei Gül Yavuz: guel.yavuz@oskar.berlin