Beiträge in der Rubrik #oskarStandPunkt spiegeln die persönlichen Eindrücke der Autor:innen zu Themen wieder, die sie bewegen. Sie werden von Redakteur:innen der oskar | redaktion und Gastautor:innen geschrieben. In diesem Beitrag teilt unser freiwilligen Redakteur Peter Breitfeld seine Gedanken zu den aktuellen kriegerischen Ereignissen in der Ukraine.
Wenn ich die Nachrichten vom Krieg in der Ukraine höre, Tod, Zerstörung und die vielen Geflüchteten sehe, habe ich immer wieder auch das Bild einer alten Frau mit Kopftuch vor Augen. Ich kann dagegen nichts tun. Sie hat mit Putins Krieg nichts zu schaffen. Und trotzdem werde ich sie und ihren Blick nicht los. Das ist auch gut so.
Ein Freundschaftstreffen 1977 in den Straßen von Wolgograd
Diese alte Frau stand 1977 am Rand einer Straße im Zentrum von Wolgograd. Ich war damals 28 Jahre und trug das Blauhemd der DDR-Jugendorganisation. Wir waren in der Stadt an der Wolga zu einem Freundschaftstreffen mit Jugendlichen der Sowjetunion. An einem der Tage stand am frühen Nachmittag eine Demonstration im Zentrum Wolgograds auf dem Plan. Gemeinsam mit Jugendlichen aus verschiedenen Städten unserer Gastgeber liefen wir durch die Straßen und machten deutlich, dass wir freundschaftlich verbunden sind und zusammen für Frieden einstehen wollen. In den Straßen, auf denen wir demonstrierten, hatten vor 34 Jahren heftigste Kämpfe zur Verteidigung der Stadt gegen Hitler und die deutsche Wehrmacht getobt. Die Schlacht um Stalingrad im 2. Weltkrieg – so hieß die Stadt damals noch – mit den unsäglich vielen Opfern steht ja als mahnende Erinnerung in den Geschichtsbüchern.
Jetzt liefen wir dort, junge Deutsche. Ich weiß gar nicht, ob wir irgendwelche Plakate und Losungen mitführten. Auf alle Fälle hatten wir kleine Papierfähnchen dabei. Mit denen winkten wir den Bewohner:innen Wolgograds zu, die unsere Demo verfolgten.
Unvergesslich für mich sind ihre Augen und die Blicke, die mich daraus trafen. Es waren helle klare Augen. Sie schaute freundlich zu uns hinüber. Aber es lag auch Zweifel in ihrem Blick. Kann man den Deutschen da trauen?
Eine kleine zierliche alte Frau stand ganz vorn am Fußweg, um alles gut sehen zu können. Ihr Oberkörper war leicht nach vorn gebeugt. Sie war auf einem Stock gestützt. Sie hatte den Krieg überlebt. Seine Schrecken waren ihr ins Gesicht geschrieben. Es war ihr anzusehen, dass ihr das Stehen schwer viel. Irgendwie trafen sich unsere Blicke. Ich sah in ihr von Falten durchfurchtes Gesicht. Sie trug ein Kopftuch, das unter dem Kinn gebunden war. Unvergesslich für mich sind ihre Augen und die Blicke, die mich daraus trafen. Es waren helle klare Augen. Sie schaute freundlich zu uns hinüber. Aber es lag auch Zweifel in ihrem Blick. Kann man den Deutschen da trauen? Letztlich obsiegte ein Lächeln, das ich gern erwiderte und ihr mit meinen Fähnchen zuwinkte. Ich merkte, wie wichtig mir ihr Lächeln war!
Sie würde den Krieg in der Ukraine nicht gutheißen
Diese alte Frau aus dem russischen Wolgograd mit dem faltendurchfurchten Gesicht und den hellen, freundlichen Augen lebt heute nicht mehr. Je länger der Krieg in der Ukraine andauert, umso mehr überlagern seine Schreckensbilder bei mir das Bild von ihr. Aber ich möchte ihren Blick nie vergessen. Er ist mir besonders heute sehr wichtig. Und ich glaube fest, sie würde nicht gutheißen, dass Putin die Ukraine mit Krieg überzieht. Auch will ich gern glauben, viele in Russland denken ebenso. Ich bin mir nur nicht sicher und wünschte mir, es würden immer mehr und sie würden es vor allem viel deutlicher zum Ausdruck bringen. Es ist ein Verbrechen, das der russische Präsident und seine Unterstützer dem ukrainischen Brudervolk antun. Wir können nicht laut genug schreien: Hört auf damit! Schluss mit dem Krieg, sofort!
Wie wollen wir künftig mit friedliebenden russischen Menschen zusammenleben? Die gibt es doch auch, ich hoffe viel, viel mehr als diese Putins.
Kommt Mariupol so wie Wolgograd in die Geschichtsbücher? Ist dieser Vergleich überhaupt zulässig? Ganz sicher aber die Frage: Wie lange wird es dauern, bis Großmütter, Frauen und Kinder dieser Stadt Menschen aus Russland wieder zu lächeln können? Geht das überhaupt, angesichts der Kriegsgräuel hier und in Butscha und anderswo in der Ukraine? Welche Wirkungen hat der Krieg für Russland selbst. Und muss uns das kümmern? Diesem Präsidenten und seinen Getreuen werden wir nie mehr trauen können. Aber wie wollen wir künftig mit friedliebenden russischen Menschen zusammenleben? Die gibt es doch auch, ich hoffe viel, viel mehr als diese Putins. Wollen wir Russland auf Dauer die Tür weisen und aus dem Europäischen Haus verbannen?
Viele Fragen und Redebedarf
Dass wir uns unabhängiger machen von Gas, Öl und Kohle aus Russland, ist richtig. Aber wie weit geht das Embargo. Gar kein Handel mehr? Keine russischen Waren mehr in unseren Supermärkten? Restaurants russischer Inhaber meiden oder gar bedrohen? Kann das gut sein? Und hilft das wirklich gegen den Krieg?
Was machen die 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr und die auf Dauer steigenden Rüstungsausgaben mit uns? Wo fehlt uns das Geld dann? Sicher, wir brauchen eine Armee, die gut ausgestattet und mit moderner Bewaffnung ausgerüstet ist. Ich dachte, wir hätten die und war da wohl nicht gut informiert. Dass es unseren Soldaten sogar an winterfester Unterwäsche mangelt, hätte ich mir nicht vorstellen können. Nun setzen wir verstärkt auf Abschreckung. Ich bin im Widerstreit mit mir, ob das wirklich die beste Lösung ist. Bringen immer mehr und immer perfektere Waffen wirklich mehr Sicherheit? Wie reagieren die Putins dieser Welt darauf? Droht wieder ein ungehemmtes Wettrüsten? Ist eine Welt mit weniger Waffen kein erstrebenswertes Ziel mehr für uns?
Ich habe gerade so viele Fragen und großen Redebedarf. Sie auch? Wir werden wohl noch viel nachdenken müssen. Einfache Lösungen wird es nicht geben.
Und wie kann ich jetzt helfen? Zur nächsten Demo gehen oder bei einem der Hilfe-Punkte mit anpacken. Das geht nicht, da spielt mein Körper nicht mehr mit. Aber spenden kann ich auf das Konto der Ukrainehilfe. Und das mach ich jetzt auch gleich noch mal. Ich denke dabei an die Menschen in der Ukraine und die Vielen auf der Flucht vor dem Krieg. Aber immer noch auch an meine Begegnung vor vielen Jahren in Wolgograd und an die alte Frau mit dem Kopftuch.
Dieser Beitrag entstand in der Redaktion „Zeigen, was geht!“
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